Ökonomische Herausforderungen im Fokus
Die Spitäler und Kliniken haben sich sehr gut vorbereitet, um Situationen wie beispielsweise in Italien zu vermeiden. Einen Kollaps des Gesundheitssystems haben alle – der Bundesrat, aber auch die Spitäler und Kliniken – auf Biegen und Brechen verhindern wollen. So wurden auf Anordnung der Kantone die Bettenkapazitäten für COVID-19-Behandlungen erhöht und Intensivstationen erweitert oder zusätzlich installiert, um für die schlimmsten Szenarien bereit zu sein.
Dank dieser sauberen und überlegten Vorbereitung von allen Beteiligten und mit Blick auf die heutigen Zahlen scheint uns dies aktuell gelungen zu sein. Doch noch ist das Ende nicht nah.
Es drohen medizinische Folgeschäden
In den nächsten Wochen gelangen vermehrt ökonomische Herausforderungen in den Fokus:
- Es gibt riesige Ertragsausfälle durch das Operations-und Behandlungsverbot von nicht dringlichen Fällen
- Da die PatientInnen zu Hause bleiben, statt sich behandeln zu lassen, entstehen medizinisch relevante Folgeschäden, da sie dann zu spät in die Notfallstationen gehen.
In puncto Abrechnungen konnte zwar gemeinsam mit den Tarifpartnern und unter Leitung des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) relativ rasch eine Lösung für den stationären Bereich gefunden werden. Die COVID-19-Fälle lassen sich nun mehr oder weniger gut über das SwissDRG-Tarifsystem abrechnen, doch bleiben Kosten für die äusserst ressourcenintensive stationäre Behandlung von COVID-19-Patienten ungedeckt. Spitäler und Kliniken sind deshalb angehalten, diese Kosten zu erfassen, und H+ setzt sich dafür ein, dass sie beispielsweise über das Epidemiengesetz erstattet werden können.
Es braucht Lösungen für die veränderte ambulante Versorgung
Auch die ambulante Versorgung hat durch die Massnahmen des Bundes Veränderungen erfahren. So müssen Patienten häufig auf Distanz, beispielsweise via Telefon oder Video-Telefonie, versorgt werden. Das dauert länger. Ebenso haben die psychiatrischen Institutionen andere Versorgungsformen entwickelt – wie beispielsweise das Home Treatment um Patienten optimal zu versorgen. Doch über den TARMED abgerechnet werden können diese Leistungen nicht. Zwar hat das BAG zusammen mit den Versicherern gewisse Leistungen der COVID-19-Situation angepasst, doch aus Sicht der Spitäler und Kliniken reicht das noch nicht aus. Nun gilt es gemeinsam mit Bund und Kantonen, aber auch mit den Tarifpartnern, Lösungen zu finden.
Nationale Koordination wäre wünschenswert
Gemäss der bundesrätlichen Verordnung zur Bekämpfung des Coronavirus sind die Kantone verpflichtet, dem Koordinierten Sanitüätsdienst (KSD) Zahlen für das Informations- und Einsatz-System (IES) zu liefern, unter anderem zur Auslastung der relevanten Spitalbetten, vorhandenem Schutzmaterial etc.. Das funktioniert aber nur bedingt. Eine bessere, nationale Koordination wäre wünschenswert. Ausserdem wäre es sinnvoll, dass die Leistungserbringer, die schliesslich den Kantonen ihre Daten liefern, Einsicht in das IES erhalten und so davon profitieren könnten.
Spitalstruktur und Pandemiepläne sind zu überarbeiten
Es ist momentan noch zu früh, um abzuschätzen, welche Veränderungen die Krise für die Gesundheitsbranche mit sich bringt. Sicher haben die Spitäler bis jetzt auch gut auf die Krise reagieren können aufgrund der vorhandenen Strukturen und Kapazitäten. Nach der Krise wird dies sicher Einfluss haben auf die Diskussion über die Anzahl nötiger Spitäler und Kliniken in der Schweiz. Die Pandemie könnte zeigen, dass es die Spitalstruktur von heute braucht, um die Bevölkerung gut zu versorgen. Ein weiterer Punkt wird wohl sein, dass alle Beteiligten ihre Pandemie-Pläne und -Vorkehrungen anschauen und aufgrund der gemachten Erfahrungen an den nötigen Stellen anpassen werden, um für zukünftige Krisen gewappnet zu sein.
Dr. Anne Bütikofer, Direktorin von H+ Die Spitäler der Schweiz
Die notwendigen Reformen werden sich verzögern
Herr Hubert, was sind zurzeit die grössten Herausforderungen für das Gesundheitswesen?
Antoine Hubert: Die beiden grössten Herausforderungen für das Gesundheitswesen sind einerseits die Wiederbelebung der gesamten Wertschöpfungskette der Belegschaft (Hausarzt, Facharzt usw.) und andererseits die Wiederherstellung des Patientenvertrauens. Der grösste Fehler, der weltweit gemacht wurde, war, Menschen mit Symptomen zu sagen, dass sie zu Hause bleiben sollen. Den Hausärzten hätte vertraut werden müssen, denn all diese Menschen hätten von einer frühzeitigen Behandlung profitieren können, insbesondere wenn sie nur leichte Symptome hatten. Einige dieser Patienten gingen dann zu spät und mit viel schwereren Symptomen ins Krankenhaus.
Bei den Herausforderungen ist es am wichtigsten, unser Gesundheitssystem kritisch und objektiv im Auge zu behalten und die öffentlich-private Zusammenarbeit zu intensivieren. Die Sicherstellung einer Aufgabenverteilung im Geiste der Offenheit und Zusammenarbeit, um ein System aufrechtzuerhalten, das für alle zugänglich und effizient ist.
Was hat in der Krise gut funktioniert und wie beurteilen Sie die Arbeit der Regierung?
Während der Krise, während dieser vier bis sechs Wochen, vergass jeder, ob privat oder öffentlich, ein wenig die Streitigkeiten, um eine heilige Vereinigung von Gesundheitsakteuren zu schaffen, ohne sich um die üblichen Spaltungen zu kümmern. Hier haben sich Privatkliniken als integraler Bestandteil des Gesundheitssystems erwiesen. Dieser Geist der Zusammenarbeit war auf der Ebene der .rzte und des Pflegepersonals stärker präsent als auf der Ebene der Verwaltungen. Persönlich würde ich der Politik keinen Vorwurf machen und kann dem Bundesrat nur gratulieren. Der Bundesrat hat immer sehr darauf geachtet, nicht zu restriktiv zu sein und den Einzelnen mit in die Verantwortung zu nehmen. Dass kein vollständiger Lockdown angeordnet wurde und man ausgewogene Massnahmen ergriffen hat, liegt sicherlich an einer kollegialen Regierung. Ich stelle mir vor, wie Ignazio Cassis als ausgebildeter Arzt seine Meinung abgegeben hat, das hat sicherlich enorm geholfen. So wie auch Guy Parmelin, mit seinem Gespür für die Realität dafür, was ein Kleinunternehmer ertragen kann. Ich bin sehr stolz darauf, was der Bundesrat in diesem Zusammenhang geleistet hat. Andererseits war die Bewältigung der Krise in den Kantonen, insbesondere in der französischsprachigen Schweiz, schwieriger.
Warum schwieriger?
Die französischsprachigen Kantone, insbesondere Waadt mit dem Universitätsspital in Lausanne (CHUV), haben ihre kantonalen Krankenhäuser bevorzugt und Privatkliniken nur auf subsidiärer Basis genutzt. Auch die Gespräche über die Entschädigung von Privatkliniken sind eher schleppend, während gleichzeitig in diesen Kantonen gemeinwirtschaftliche Leistungen (GWL) und garantierte Kredite mühelos fliessen und erneut dazu verwendet werden, Verluste der öffentlichen Einrichtungen auszugleichen. Bestes Beispiel dafür ist das kürzlich an das Hôpital Riviera-Chablais (HRC) gewährte Notdarlehen in Höhe von 80 Millionen Franken.
Wie gross ist der wirtschaftliche Schaden für die Spitäler?
Die zwangsweise Annullierung aller nicht notwendigen Operationen, sowohl in öffentlichen Spitälern, als auch in privaten Kliniken, hat zu gravierenden Verlusten geführt, die massive Entschädigungen notwendig machen. Es ist klar, dass die Kantone und der Bund die Verluste des öffentlichen und privaten Spitalsystems vollständig kompensieren müssen, wenn wir den qualitativen Vorteil bewahren wollen, den wir in der Schweiz gegenüber anderen Ländern während dieser Krise beobachtet haben. Die Kantone Bern und Graubünden haben bereits mit ausgewogenen Vorschl.gen die Führung in dieser Frage übernommen.
Was werden Sie beim Einkauf von Schutzmaterialien wie etwa Masken ändern?
Wir haben unsere üblichen Lieferketten so weit wie möglich beibehalten, um Spekulationen und Preiserhöhungen durch parallele Lieferketten nicht zu fördern. Es liegt auf der Hand, dass wir in diesen Bereichen die Reserven für die Zukunft erhöhen werden.
Wann wird der Normalbetrieb wieder wie vor der Krise sein?
Wenn endlich die Medien aufhören, die ganze Situation obsessiv und überbedrohlich darzustellen. In der Tat haben die Medien wesentlich dazu beigetragen, eine zu grosse Besorgnis in der Bevölkerung und damit in der politischen Welt zu erregen, insbesondere in den lateinischen Regionen und angelsächsischen Gebieten. Die nordeuropäische und deutschsprachige Presse berichtet im Allgemeinen viel sachlicher.
Wird die Krise die Gesundheitsbranche verändern?
Die Krise hat insbesondere die Digitalisierung beschleunigt und zur Aufwertung der Telemedizin beigetragen. Damit haben wir für die Zukunft Zeit gespart. Gleichzeitig befürchte ich, dass sich die notwendigen Reformen des Gesundheitssystems verzögern werden. Einerseits, weil die Bew.ltigung der Krise, insbesondere ihre finanziellen Aspekte, lange dauern wird. Andererseits hat das gesamte Gesundheitssystem jetzt einen Heiligenschein erhalten, der es vor Kritik schützt. Dabei vergisst man allerdings, dass die Mediziner und Pfleger die Helden sind, nicht die Institutionen. Zudem haben wir die Überlegenheit dezentraler Organisationen mit regionalen Krankenhäusern (wie zum Beispiel im Tessin) gegenüber zentralisierten Systemen (z. B. Waadt und Genf) wahrgenommen. Dezentrale Organisationen ermöglichen es, Manager vor Ort zu haben, die sehr schnell auf die auftretenden Herausforderungen und Probleme reagieren können. Es ist besser, kleine, vernetzte Spit.ler zu haben als grosse Zentralinstitute.
Antoine Hubert, Gründer von Swiss Medical Network und Delegierter des Verwaltungsrates der Aevis Gruppe
Die Medien zeichnen ein falsches Bild der Spital-Situation
Seit dem Start der COVID-19-Krise hat die Insel Gruppe auf allen geforderten Ebenen enorm aufgerüstet und sich neu aufgestellt: organisatorische Anpassungen zur Verlagerung benötigter Ressourcen, bauliche Installationen wie der COVID-19-Trakt oder zusätzliche Intensivbehandlungsplätze, Ausbau der hygienetechnischen Massnahmen etc. Im Auftrag des Kantons wurden zudem die elektiven Eingriffe auf ein Minimum heruntergefahren, damit die Insel Gruppe für die gesamte Region genügend Vorhalteleistungen anbieten kann.
Substanzielle Fragen für unsere Gruppe
In dieser Situation stellen sich nun eine Vielzahl von Konsequenzen und Herausforderungen: Eine notwendige "Grundspannung" trotz vieler freier Kapazitäten beizubehalten, Lastspitzen durch Umverteilungen von Personal zu brechen, dem erhöhten Informationsbedürfnis aller Mitarbeitenden gerecht zu werden, den Umgang mit eigenen Risikogruppen in die Gesamtplanung einzurechnen, die Umdisponierung von eingestellten, zurückgestellten oder langsamer ablaufenden Projekten. Gleichzeitig stellen sich Fragen, die für das Unternehmen substanziell sind: Welche Szenarien sind für die kommenden Wochen und Monate zu planen? Wie können Ertragsausfälle kompensiert werden? Welchen Beitrag können unsere Forschenden zur Lösung der Situation beitragen? Das Engagement und die aktive Mithilfe aller Mitarbeitenden, sowohl bei der Lösungsfindung als auch der Umsetzung der Massnahmen, war ein sehr positives Erlebnis. Nicht nur die interdisziplinäre Zusammenarbeit funktioniert sehr gut, sondern auch die standortübergreifende Koordination.
Kritik an den Medien
Schwierig finde ich die aktuelle Form der einseitigen Berichterstattung in den Medien, wo vor allem mit Bildern aus dem Ausland und zugespitzten Hypothesen ein sehr negatives Bild vermittelt wird. Daraus resultiert ein falsches – ja sogar gefährliches – Bild zur aktuellen Situation in den Spitälern. Personen verzichten beispielsweise aus Angst vor einer Ansteckung darauf, in den Notfall zu gehen und bringen sich dadurch selber in unnötig gesundheitsgefährdende Situationen. Fakt ist, dass Spitäler ein sicherer Ort für Patienten, Mitarbeitende und Besucher sind und das Schweizer Gesundheitssystem eines der weltweit besten ist.
Lob für den Kanton Bern
Die Koordination zwischen uns und dem Kanton ist intensiv und gut. Mit der kürzlich vom Regierungsrat verabschiedeten Verordnung, mit welcher der Kanton die Spitäler für ihre durch die Coronavirus-Krise entstandenen Ertragsausfälle kompensiert, gibt es in der Krise zudem eine gewisse Sicherheit. Wir dürfen bei aller Kritik von verschiedenen Seiten nicht vergessen: Die aktuelle Situation ist noch nie dagewesen. Dass dabei auch Fehler passieren, ist klar.
Krise unterstützt Digitalisierung und Pflegeinitiative
Die tatsächliche Tragweite dieser Krise wird sich erst im Nachgang richtig einschätzen lassen. Im Verlauf einer Krise selber lassen sich keine belastbaren Hypothesen erstellen. Dazu sind der Mensch und die Gesellschaft zum Glück viel zu sehr anpassungsfähig und auch vergesslich! Wir können aber bereits jetzt sagen, dass die Digitalisierung der Kommunikationsmittel einen starken Aufschwung erfahren haben. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass die aktuelle Krise einzelnen Themen im Gesundheitswesen neuen Anschub gibt, beispielsweise der Pflegeinitiative oder der Diskussion um die Ökonomisierung im Gesundheitswesen.
Dr. Uwe E. Jocham, Dr. med. h. c., Direktionspräsident der Insel Gruppe
Es gibt einen Stau von ausgefallenen Behandlungen
Wir unterstützen die Vorbereitungen des Bundes, genügend Kapazitäten für die Behandlung von COVID-19-Patienten bereitzustellen. Die Hirslanden-Kliniken sind in all ihren Standortkantonen Teil der kantonalen Pandemieplanung und in der Regel von Beginn weg in die kantonalen Krisenstäbe eingebunden. Die Zusammenarbeit mit den öffentlichen Spitälern sowie auch den kantonalen und nationalen Behörden ist sehr gut.
Gefahr, weil Patienten mit gravierenden Symptomen nicht zum Arzt gehen
Wie alle Spitäler in der Schweiz – private wie öffentliche – waren wir von der Verordnung des Bundesrats betroffen, dass Spitäler nur noch dringliche Operationen durchführen dürfen. Hinzu kommt, dass wir tendenziell einen Rückgang von Bypass-Operationen, Tumoroperationen oder bei Konsultationen von Patienten mit akuten Schmerzzuständen verzeichnen. Ebenso haben die Konsultationen auf den Notfallstationen abgenommen.
Es macht den Anschein, dass viele Patienten es derzeit vermeiden, einen Arzt oder ein Spital aufzusuchen. Sei es aus Angst, sich im Spital mit dem Coronavirus zu infizieren, oder weil sie die Notfallstationen nicht belasten wollen. Dabei wäre es wichtig, dass Patienten mit gravierenden Symptomen weiterhin zum Arzt gehen oder eine Notfallstation aufsuchen und dass sie dringliche Eingriffe und Behandlungen nicht aufschieben. Ansonsten laufen sie Gefahr, dass sich ihr Gesundheitszustand aufgrund ausbleibender medizinischer Leistungen verschlechtert.
Die momentane Situation wird dazu führen, dass im Sommer ein Stau von Behandlungen von Nicht-COVID-19-Patienten bestehen wird, welcher nur schwer abzubauen sein wird.
Dr. Christian Westerhoff, Dr. med., Chief Clinical Officer der Privatklinikgruppe Hirslanden